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Titel
Traditionsbezug und Transformation. Die Briefe des Avitus von Vienne als Inszenierungen eines spätantiken Bischofs


Autor(en)
Schenk, Johanna
Reihe
Roma Aeterna
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Egetenmeyr, Institut für Geschichte, Universität Koblenz

Avitus von Vienne zählt zweifellos zu den bedeutendsten viri docti des spätantiken Galliens. Er war nicht nur aufgrund seiner Herkunft in aristokratische Netzwerke eingebunden und korrespondierte mit führenden Persönlichkeiten seiner Zeit, sondern pflegte als Bischof von Vienne vor allem seine klerikalen Verbindungen. In den 86 überlieferten, von Avitus selbst verfassten Briefen zeichnete der Bischof je nach Situation und Adressat ganz spezifische Selbstbilder, denen Johanna Schenk in ihrer 2018 an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt eingereichten Dissertation nachgegangen ist.

In der geringfügig überarbeiteten Publikation ihrer Dissertation analysiert die Autorin an ausgewählten Beispielen die Briefe des Avitus als Selbstinszenierung eines spätantiken Bischofs. Ihre Auswahl umfasst auch Stücke, die nicht aus der Feder des Avitus stammen, aber an ihn adressiert waren. Dabei geht Schenk der Frage nach, welche Porträts von Avitus in den Briefen erkennbar werden. Während der Vienner Bischof zwar vermehrt in das Blickfeld vergleichender Darstellungen geriet – wie beispielsweise im Bonner DFG-Projekt „Gallien zwischen imperium und regna. Die Darstellung von Kontingenz und ihrer Bewältigung“ – oder bei Auseinandersetzungen mit den gallischen Oberschichten oder religiösen Fragen im spätantiken Gallien Beachtung fand1, legt Schenk mit ihrer Arbeit eine längst überfällige und willkommene Auseinandersetzung mit der Selbstdarstellung dieses spätantiken Bischofs vor.

In der längeren Einleitung werden nicht nur Aspekte der Brieftheorie mit besonderem Fokus auf die Selbstdarstellung eines Verfassers besprochen (unter anderem die Erläuterung von Autofiktion und Self-fashioning, S. 20–33), sondern Schenk bietet darin einen gelungenen Überblick über den spärlichen, aber wachsenden Forschungsstand zu Avitus (S. 16–20) sowie eine kurze biographische Einführung zum Bischof von Vienne (S. 34–39) und den Zeitumständen, in denen der Autor gelebt hat (S. 39–50). Nach dieser knappen historischen Einordnung, die sich vor allem auf die Arbeiten von Reinhold Kaiser und Justin Favrod stützt, jedoch neuere Forschungsansätze, die sich kritisch mit dem Germanenbegriff auseinandersetzen2, vernachlässigt, diskutiert Schenk die Rolle von Adel, Bildung und Bischöfen im spätantiken Gallien (S. 50–69) und schließt die Einleitung mit einer Erläuterung von Anlage und Aufbau der Arbeit ab.

Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich in zwei Kapitel, die der Zweischrittanalyse von Schenks Untersuchung entsprechen. Im ersten Schritt der Arbeit werden zunächst exemplarisch einzelne Briefe analysiert und interpretiert (Kapitel 2), um dann in Kapitel 3 das Porträt des Bischofs in der Sammlung als Ganzes zu betrachten. Dadurch möchte Schenk die verschiedenen Rollen des Bischofs sichtbar machen und Übereinstimmungen und mögliche Unterschiede im Avitus-Porträt, das in den einzelnen Briefen und in der Sammlung als Ganzes gezeichnet wird, erkennen. Durch die zweistufige Analyse möchte Schenk nachvollziehen, wo die Sammlung zugunsten des Avitus bereinigt beziehungsweise die Darstellung des Bischofs „geglättet“ wurde (vgl. S. 15, 33, 71). Die Briefe, die Schenk exemplarisch für die verschiedenen Avitus-Porträts analysiert und interpretiert, werden in den Kapiteln 2 und 3 zunächst nach Adressaten und dann nach deren kirchlicher Stellung geordnet. In Kapitel 3 kommt eine geographische Gliederung (Gallien – Italien, Westrom – Ostrom) der Briefe hinzu. Für beide Kapitel hat Schenk die Auswahl der Briefe nach folgenden Kriterien getroffen: zunächst nach der Häufigkeit, mit der ein Adressat in der Sammlung vorkommt, dann nach der Häufigkeit eines Briefthemas (S. 71).

Beide Kapitel bauen auf der in der Einleitung getroffenen Unterscheidung zwischen Self-fashioning und Autofiktion auf, wobei dem Publikum eine entscheidende Rolle in der epistolaren Selbstdarstellung zukommt (S. 32). Gerade deshalb sei es wichtig, die Inszenierung des Avitus sowohl auf der Ebene der einzelnen Briefe als auch auf der Ebene der gesamten Sammlung zu analysieren (S. 33). Die mögliche Kritik, dass die Sammlung des Avitus, anders als etwa die des Sidonius Apollinaris, gar nicht von diesem selbst arrangiert und in Umlauf gebracht worden sei, sondern dass unbekannte Akteure vermutlich nach dem Tod des Bischofs einzelne Stücke zu einer Sammlung zusammengefügt hätten und man daher kaum von einer „Selbstinszenierung“ sprechen könne, greift Schenk selbst auf. Sie versucht diese Kritik zu entkräften, indem sie darauf hinweist, dass ein Autor innerhalb einer Sammlung in mehreren Rollen auftrete und sich so die Möglichkeit eröffne, „ein Gesamtbild des Epistolographen zu entwerfen, das die Briefsammlungen in die Nähe von Autobiographien rückt“ (S. 32).3

Insbesondere Kapitel 2 zeichnet sich durch eine klare Struktur aus. Sowohl in den Untersuchungen zu den kirchlichen Würdenträgern (S. 73–126) – angefangen bei den Suffraganbischöfen (beispielhaft an Victorius von Grenoble und Apollinaris von Valence) und aufgehört bei den päpstlichen Korrespondenzen des Avitus (beispielhaft Hormisdas) – als auch den Analysen seiner Korrespondenten mit weltlichen Laien (beispielhaft Ansemundus und Sidonius‘ Sohn Apollinaris) und Herrschern (beispielhaft Gundobad) (S. 126–184) bietet Schenk zunächst eine kurze biographische Einführung zu den Adressaten, stellt dann die Umstände der Schreiben dar, arbeitet die zentralen Themen heraus und schließt daran eine jeweils sehr gelungene detaillierte philologische Analyse der einzelnen Stücke an. Kleinere Zwischenfazits fassen die Interpretationsergebnisse zusammen. Ein kurzes Fazit (S. 185–186), das die Zwischenergebnisse nochmals pointiert, rundet das Kapitel ab. Insgesamt kommt Schenk im ersten Teil ihrer Analyse der Selbstdarstellung des Vienner Bischofs zu dem Ergebnis, dass das Selbstbildnis von Avitus in diesen Korrespondenzen von zwei primären Rollen geprägt sei: Avitus als gebildetes Mitglied aristokratischer Eliten und Avitus als engagierter Bischof, der sich um das Seelenheil seiner Gläubigen bemüht und dabei den Willen Gottes ausführt. Insbesondere im Bereich der Bildung würden sich beide Rollen des Avitus überlappen, der in seinen Schreiben klassische und christliche Literatur nicht gegeneinander ausspiele, sondern klassische und christliche Bildung nebeneinanderstelle. Insbesondere dadurch könne man „im Hinblick auf die Selbstdarstellung des Verfassers […] von Traditionsbezug genauso wie von Transformation gesprochen werden.“ Leider hat es Schenk zuvor versäumt, den Begriff „Tradition“ zu definieren, und die Hinweise auf „typische epistolare Topoi und Briefthemen“, die ohne konkrete Beispiele bleiben, erscheinen bei einem so komplexen Begriff wie Tradition, hinter dem sich eine Vielzahl unterschiedlicher Theorien und Konzepte verbergen, doch unzureichend.4 Interessant ist Schenks Beobachtung, dass der Bischof von Vienne meist die Rollenangebote anderer annahm (S. 125), was deutlich macht, warum eine Analyse der Briefe, die gar nicht von Avitus selbst stammen, für die Selbstdarstellung des Bischofs dennoch wichtig ist.

Im dritten Kapitel (S. 187–233), das die Autorin zur Erörterung der Überlieferungsgeschichte der Briefe nutzt (S. 187–193), untersucht Schenk die Darstellung des Avitus in der Sammlung insgesamt. Sie beginnt erneut mit der Korrespondenz an die burgundischen Bischöfe (194–199), beginnend mit den Suffraganbischöfen des Avitus. Besonders hervorzuheben ist ihre Feststellung, dass Avitus seine Suffraganbischöfe nie um etwas gebeten oder mit ihnen über exegetische, literarische, erzieherische oder politische Fragen diskutiert habe. Vielmehr trete Avitus als Oberhirte auf, der in „angemessener Weise Ratschläge zur Kirchenorganisation“ erteile (S. 196–197). Die Briefe an die anderen burgundischen Bischöfe zeichnen sich durch die Betonung der herausragenden Stellung des Avitus aus. Dieses Ansehen war nicht auf das burgundische Territorium beschränkt, sondern lässt sich durch seine Kommunikation mit anderen Bischöfen über die Grenzen hinweg nachvollziehen. Schenk widmet sich daher zunächst kurz der Korrespondenz mit Klerikern in den westgotischen (S. 200–201) und ostgotischen Gebieten (S. 201–202), bevor sie auf die Briefe an Päpste (S. 202–204, erneut Hormisdas) und einflussreiche Laien in Konstantinopel (S. 204–206) eingeht, die Avitus im Auftrag Sigismunds verfasste. Anschließend behandelt Schenk „Schreiben an Adlige auf dem Gebiet des ehemaligen weströmischen Reiches“ (S. 206–210) und bespricht dann die Schreiben an Könige (210–214). Im Zwischenfazit (S. 214–217), das sich weitgehend mit den Ergebnissen des 2. Kapitels deckt, macht Schenk die wichtige Beobachtung, dass Briefe oder Themen, die die positive Darstellung des Bischofs von Vienne hätten gefährden können, in der Sammlung ausgespart wurden. Insgesamt erscheint Avitus als hochgebildeter Angehöriger der kirchlichen und weltlichen Eliten, der sich dementsprechend verhielt und auch die Regeln der Kommunikation beherrschte.

Im letzten Teil des dritten Kapitels geht Schenk auf Nuancen und Akzente in der Anordnung der Briefe ein (S. 217–231). Denn nicht nur die Auswahl der einzelnen Stücke für die Sammlung, sondern auch deren Anordnung ergebe eine „bestimmte Darstellung der Hauptperson“ (S. 217), so Schenk. Die Autorin nutzt dieses Teilkapitel, um auf die unterschiedliche Überlieferung der Sammlungen und auf die unterschiedliche Anordnung der einzelnen Briefe in den Sammlungen zu sprechen zu kommen. Sie schließt die Darstellung mit einem Hinweis auf die Symbolik der Anzahl der Bände einer Briefsammlung, die sich wiederum auf die Darstellung der Hauptperson auswirken könne (S. 230). Als Ergebnis ihrer Frage nach dem Avitus-Porträt in der Sammlung hält Schenk im Fazit des dritten Kapitels fest (S. 231–233): Das Bild des Bischofs von Vienne, das sich bereits in den einzelnen Briefen abzeichnete, zeichne sich auch in der Sammlung insgesamt ab. Avitus erscheine als einflussreicher und gebildeter Bischof, der über ein weit verzweigtes epistolares Netzwerk verfüge. Schenk vermutet daher, dass die Überlieferung der Briefe die Erinnerung an einen in seiner Zeit als bedeutend empfundenen Bischof bewahren sollte.

Aufgrund der ausführlichen Zwischenfazits und Zusammenfassungen am Ende der Kapitel 2 und 3 hält Schenk das abschließende Schlusskapitel kurz (S. 235–237), um Wiederholungen zu vermeiden. Sie betont noch einmal, dass die Selbstdarstellung in Abhängigkeit von Adressaten und Situationen zu sehen sei und in einer doppelten Tradition stehe: Denn Avitus inszeniere sich in den Briefen einerseits als orthodox-katholischer Bischof, andererseits als Angehöriger einer klassisch-antiken Bildungstradition (S. 235). Dieses Bild werde durch die Sammlung zu einem Ganzen zusammengefügt und die Selbstinszenierung des Bischofs entspreche damit der Kultur und Gesellschaft seiner Zeit (S. 236).

Insgesamt hat Schenk eine sehr gut lesbare und lektorierte Arbeit zu Avitus von Vienne vorgelegt. Ihre Arbeit bestätigt für die historische Forschung das bereits unter anderem von Uta Heil, Danuta Shanzer oder Ian Wood gezeichnete Bild des Avitus und seiner Zeit. Gleichwohl besticht Schenks Buch insbesondere durch die detaillierte und philologisch versierte Analyse einzelner Briefe, wodurch sie für weitere philologische Forschungen zu Avitus sicherlich von Bedeutung sein wird.

Anmerkungen:
1 Siehe: Matthias Becher / Hendrik Hess (Hrsg.), Kontingenzerfahrungen und ihre Bewältigung zwischen imperium und regna. Beispiele aus Gallien und angrenzenden Gebieten vom 5. bis zum 8. Jahrhundert, Göttingen 2021. Als weitere Beispiele seien genannt: Uta Heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder, Patristische Texte und Studien 66, Berlin 2011; Hendrik Hess, Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht. Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours, Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 111, Berlin 2019; Ian Wood, Burgundians and Bishops, in: Sabine Panzram / Pablo P. Arias (Hrsg.), Bishops under Threat. Contexts and Episcopal Strategies in the Late Antique and Early Medieval West, Arbeiten zur Kirchengeschichte 150, Berlin 2023, S. 167–182.
2 Dieser Begriff wird leider in der gesamten Arbeit aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive sehr unkritisch und unreflektiert verwendet. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf den Sammelband von Matthias Friedrich / James Harland (Hrsg.), Interrogating the ‘Germanic’. A Category and its Use in Late Antiquity and the Early Middle Ages, Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 123, Berlin 2021. Obwohl der Band erst nach der Einreichung der Arbeit von Schenk erschienen ist, wird der Germanenbegriff bereits seit längerem kritisch diskutiert, so etwa von Walter Pohl, Vom Nutzen des Germanenbegriffs zwischen Antike und Mittelalter. Eine forschungsgeschichtliche Perspektive, in: Dieter Hägermann / Wolfgang Haubrichs / Jörg Jarnut (Hrsg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 41, Berlin 2004, S. 18–34.
3 Spannend ist hier Schenks Versuch, die Alltagskommunikation des Vienner Bischofs in die sozialpsychologische Impression-Management-Theorie einzuordnen, die jedoch im weiteren Verlauf der Darstellung keine Relevanz mehr erlangt und auf die die Autorin auch im Fazit der Arbeit nicht mehr zurückkommt. Dies ist umso bedauerlicher, als sich dadurch möglicherweise neue Facetten und Hintergründe zur Konstruktion der verschiedenen Rollen und (Selbst-)Bilder des Autors hätten aufzeigen lassen.
4 Siehe beispielsweise Edward A. Shils, Tradition, London 1981; Aleida Assmann, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Beiträge zur Geschichtskultur 15, Köln 1999; Richard P. Heitzenrater, Tradition and History, in: Church History 71 (2002), S. 621–638.

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